Mal ganz offen reden

Hin und wieder kommt es vor, dass ein Thema erforscht werden soll, bei dem überhaupt noch nicht klar ist, was die Leute darüber denken könnten. Dem man sich also nähern muss, wie einem völlig unbekannten Terrain. Das funktioniert dann nicht mit standardisierten Befragungen, sondern so, wie man das auch im Alltag tun würde: durch wenige gezielte Fragen, die das Gegenüber zum Erzählen bringen.

Genau so funktionieren Leitfadeninterviews. Unter ihnen versteht man mündliche Befragungen, die keinen standardisierten Fragebogen verwenden, sondern einen nur gering strukturierten mit viel Platz für die Gesprächspartnerinnen und -partner. Sie dienen der Exploration oder Vertiefung ausgewählter Problemstellungen. Im Vorfeld eines Leitfadeninterviews wird gemäß der Zielstellung ein nur locker strukturierter Leitfaden entwickelt, der als Gesprächsgrundlage dient. Der Interviewer oder die Interviewerin kann so stärker als in standardisierten Befragungen auf den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin eingehen. Fragen können dem Gesprächsverlauf angepasst und auch tiefergehende Nachfragen gestellt werden.

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Dr. Henry Kreikenbom

Dr. Henry Kreikenbom Tafel

Zeit nehmen für komplexe Gedanken

In der Regel wird für die Durchführung eines Leitfadeninterviews ein Zeitrahmen von etwa 1,5 bis 2 Stunden angesetzt. In dieser Zeit werden eine Handvoll Leitfragen beantwortet. Man sieht bereits an diesem Verhältnis von Fragenanzahl zu Dauer, dass sich die Gesprächspartnerinnen und -partner Zeit nehmen und ihre Gedanken in aller Breite ausformulieren können. Mit zusätzlichen „Eventuellfragen“ kann die Interviewerin oder der Interviewer den Gesprächsverlauf „nachjustieren“, wenn dabei noch Informationen offen geblieben sind.

Leitfadeninterviews verweilen also sehr lange und gründlich bei einem bestimmten Thema und erreichen dadurch eine starke inhaltliche Tiefe. Mitunter stoßen sie die Forschenden auf bisher unbekannte Phänomene und Gedanken. Das macht sie zu idealen Begleitern quantitativer Forschungsmethoden: Wo diese statistisch abgesicherte Zahlen liefern, können Leitfadeninterviews an Schlüsselstellen die inhaltlichen Begründungszusammenhänge liefern. Auch Motive, Einstellungen und Meinungen können in ihrer Komplexität gut damit erfasst werden.

In die Tiefe analysieren, nicht in die Breite

Ziel von Leitfadeninterviews sind keine statistisch abgesicherten Ergebnisse. Sie beschäftigen sich stattdessen zunächst mit dem Einzelfall. Wie stehen die Antworten auf die Fragen miteinander in Zusammenhang? Ergibt sich daraus vielleicht eine Grundeinstellung? Welche Sachverhalte werden besonders häufig genannt? Was lässt sich daraus vielleicht generalisieren? Anschließend werden weitere Interviews hinzugezogen, um Vergleiche anzustellen. Im Verlauf des Analyseprozesses entstehen so verschiedene typische Denk- und Interpretationsmuster, die miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Diese unterschiedlichen Gruppen können später auch in einer standardisierten Befragung auf ihre Existenz und Größe in der Zielgruppe überprüft werden.

In der inhaltsanalytischen Auswertung der Interviews mittels moderner Software zur Textanalyse entstehen ein Ergebnisraster, in dem die Hauptergebnisse verschlagwortet sind, und ein Gesprächsverlaufsschema. Diese liefern die erforderlichen empirischen Grundlagen für:

  • die Erarbeitung von Erklärungs- und Lösungsstrategien,
  • die Entwicklung von Fragekonzepten für eine sich anschließende repräsentative Kunden-, Geschäftspartner- oder Bevölkerungsbefragung.

Die Vorteile von Leitfadeninterviews

Leitfadeninterviews sind universell in vielen Zielgruppen einsetzbar. Neben der klassischen Face-to-Face-Variante bieten wir auch Leitfadeninterviews am Telefon an. Diese eignen sich insbesondere für die Durchführung von Expertengesprächen. Leitfadeninterviews dienen zum Beispiel der:

  • Ermittlung von Einzelaspekten bestimmter vorherrschender Meinungen
  • Erforschung der Einflüsse auf die Meinungsbildung von Personen
  • Analyse komplexer Phänomene
  • Interpretation und Verfeinerung statistischer Beziehungen

Im Rahmen eines vom BMBF geförderten Projekts zur interkulturellen Erziehung in Thüringer Schulen führten wir qualitative Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern durch.

Im Rahmen der Aktualisierung des Altenplans für die Stadt führten wir Leitfadeninterviews mit älteren Menschen und Hochbetagten zu ihrer Lebenssituation und zu Wünschen an ihr Wohnumfeld in der Stadt.

In qualitativen Leitfadeninterviews mit Vertretern*innen der deutschen Wirtschaft haben wir den Stand der Digitalisierung der Arbeitsmittel in den Unternehmen und die zu erwartenden Zukunftstrends erfasst.